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Jacob Grimm. Zeichnung von Ludwig Emil Grimm.

Im Spätherbst des Jahres 1837 erregte ein bemerkenswerter Vorfall die deutsche Öffentlichkeit: Herzog Ernst August von Cumberland, der neue König von Hannover, hatte kurz nach seinem Regierungsantritt die noch junge Verfassung des Landes kassiert und damit die konstitutionelle Monarchie Hannover wieder zu einem reaktionären neoabsolutistischen System gemacht. Dagegen hatten sieben Professoren der Universität protestiert, die dann sofort ohne Anhörung entlassen wurden. Zu diesen Göttinger Sieben gehörten auch die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm.

Deutschland war damals kein Einheitsstaat, sondern bestand als Deutscher Bund aus vielen großen und kleinen souveränen Einzelstaaten. Die beiden Grimms waren 1785 (Jacob) bzw. 1786 (Wilhelm) in Hanau zur Welt gekommen, einer Stadt, die einst Hauptstadt einer souveränen Grafschaft gewesen war, jetzt aber als Verwaltungszentrum eines wenig beachteten Randgebietes von Hessen-Kassel, im Deutschen Bund dann Kurfürstentum Hessen, eine bescheidene und beschauliche, später aber von heftigen regionalen Wirtschaftskrisen geschüttelte Existenz führte.

Bild: Jacob Grimm. Zeichnung von Ludwig Emil Grimm.

Wilhelm Grimm. Zeichnung von Ludwig Emil Grimm.

Die Grimms entstammten einer alten Hanauer Theologen- und Beamtenfamilie. Der Vater wurde wenige Jahre nach ihrer Geburt als Justizamtmann nach Steinau a. d. Straße im Kinzigtal versetzt, so dass die beiden Brüder nur ihre ganz frühe Kindheit in Hanau verbrachten. Der hessische Staat förderte die beiden Beamtensöhne. Sie besuchten das Lyceum Fridericianum in Kassel, studierten beide an der Universität Marburg, und Jacob erhielt bald eine Stelle im hessischen Staatsdienst, die ihn in diplomatischen Angelegenheiten bis nach Paris und Wien führte. Die kurze Zeit, die Kassel zum Rheinbundstaat Westfalen gehörte, tat seiner Laufbahn keinen Abbruch.

Bild: Wilhelm Grimm. Zeichnung von Ludwig Emil Grimm.

Ludwig Emil Grimm. Selbstbildnis 1815. Radierung.

Wilhelm, der Jüngere, gesundheitlich angeschlagen, arbeitete literarisch, erhielt dann aber eine Sekretärsstelle an der Kasseler Bibliothek. Ludwig Emil, ein jüngerer Bruder, machte eine bescheidene Karriere als Maler und Zeichner. Jacob und Wilhelm hatten während der diplomatischen Reisen des Älteren einander sehr vermisst und sich deshalb gegenseitig versichert, eine solche Trennung dürfe nicht mehr vorkommen. Sie hielten beide Wort, und ihr Leben verlief denn auch in fast parallelen Gleisen.

Beide arbeiteten an der Kasseler Bibliothek, beide gingen 1830 an die Universität Göttingen. In der wissenschaftlichen Welt und darüber hinaus hatten sie sich schon einen Namen gemacht: Der romantischen Vorstellung anhängend, die wirklich großen Schöpfungen der menschlichen Kultur seien nicht von einzelnen Genies, sondern vom „Volk“ gleichsam unbewusst geschaffen worden, sahen sie als die bedeutendsten Erschaffungen des deutschen Volkstums einmal die deutsche Sprache selbst, dann die uralten Sagen und Märchen an.

Bild: Ludwig Emil Grimm. Selbstbildnis 1815. Radierung.

Doppelportrait der Brüder Grimm, 1843. Bleistiftzeichnung von Ludwig Emil Grimm.

Folglich stellten sie eine Deutsche Grammatik zusammen, sammelten Sagen und, was sie weithin populär gemacht hat, Märchen.

Freilich fanden sie auch, was sie eigentlich gar nicht gesucht hatten, denn ihre gewichtigste Gewährsperson, die Märchenfrau Dorothea Viehmann aus einem kleinen Dorf bei Kassel, erzählte ihnen auch Kunstmärchen aus französisch hugenottischer Tradition, welche die Grimms dann für deutsche Volksmärchen hielten, doch ist das ganz unwichtig: Die bedeutende Sammlung der Märchen, von den Brüdern in eine verbindliche sprachliche Form gebracht, hat das kollektive Bewusstsein der Deutschen geprägt wie kaum ein anderes Stück Literatur.

Was trieb die beiden Wissenschaftler zu ihrem Göttinger Protest?

Bild: Doppelportrait der Brüder Grimm, 1843. Bleistiftzeichnung von Ludwig Emil Grimm.

Dorothea Viehmann, 1815. Radierung von Ludwig Emil Grimm.

Während der revolutionären Ereignisse des Jahres 1830 hatte ihre Geburtsstadt Hanau eine bedeutende Rolle gespielt, doch trieb die beiden Grimms wohl weniger freiheitsdürstende Aufmüpfigkeit als vielmehr eine in ihrer Hanauer Familie fest eingewurzelte Tradition juristischer Korrektheit und verbindlicher Verlässlichkeit. Dass der neue König einfach so von sich aus die Landesverfassung kassierte, das ging nicht an, dagegen protestierten sie und deswegen wurden sie gefeuert.

Öffentliche Anteilnahme wurde ihnen zuteil, man sammelte für ihren Lebensunterhalt, und schon 1840 wurden sie nach Preussen, nach Berlin berufen, wo sie als Mitglieder der Akademie der Wissenschaften aller materiellen Sorgen enthoben waren. Jetzt begannen sie ihr Hauptwerk, das Deutsche Wörterbuch, das alle Wörter der Deutschen Sprache enthalten sollte. Dies war eine mühsame, entsagungsreiche Gelehrtenarbeit, verständlich nur durch den ernsten wissenschaftlichen Forschungsdrang der beiden Brüder.

Bild: Dorothea Viehmann, 1815. Radierung von Ludwig Emil Grimm.

Entwurf für das Deckblatt der

Jacob aber kam noch einmal in das Blickfeld der Öffentlichkeit. Das Jahr 1848 brachte die Deutsche Revolution und die Nationalversammlung, die in Frankfurt eine demokratische Verfassung für ein geeintes Deutschland ausarbeiten wollte. Jacob Grimm war Abgeordneter.

Zwar stand Hanau auch jetzt wieder an vorderer Stelle des revolutionären Geschehens, zuerst durch das „Hanauer Ultimatum“ vom März 1848, schließlich durch den bewaffneten Kampf der Hanauer Turner für die Reichsverfassung, doch war Jacob Grimm nicht für seine Heimatstadt in der Nationalversammlung. Als preußischer Bürger vertrat er mit Essen einen Wahlbezirk der preussischen Rheinprovinz. Auch jetzt blieb er der konservativen Althanauer Beamtentradition treu, und man zählte ihn zu der eher rechts orientierten Casino-Partei. Schon nach einem knappen halben Jahr schied er aus der Nationalversammlung aus, zusammen mit Wilhelm widmete er sein restliches Leben dem Deutschen Wörterbuch. 1859 ist Wilhelm Grimm gestorben, 1863 folgte Jacob.

Ihre Heimatstadt hat den beiden Grimms (und auch dem Maler Ludwig Emil) ein ehrendes Andenken bewahrt. Aus einer Geisteshaltung heraus, die dem wissenschaftlichen Wirken der Brüder Grimm entsprach, wurde 1844 der Hanauer Geschichtsverein gegründet, der auch wichtige Zeugnisse und Dokumente ihres Lebens und Wirkens gesammelt hat. Sie sind heute im Historischen Museum Hanau in Schloss Philippsruhe zu sehen.

Auf dem Markt vor dem Neustädter Rathaus steht seit 1896 das Nationaldenkmal der beiden Brüder Grimm, und in die Sphären der Weisheit und Wissenschaft entrückt blicken Jacob und Wilhelm heute gelassen von hohem Podest herab auf das bunte Treiben, das besonders an den Markttagen diesen Platz erfüllt.

Alljährlich gestalten die Brüder Grimm Festspiele Hanau traditionelle Themen aus der Märchenwelt der Brüder Grimm in zeitgemäßen Formen und tragen so dazu bei, dass in Hanau die Erinnerung an die vielleicht bedeutendsten Söhne der Stadt immer lebendig bleibt.

Bild: Entwurf für das Deckblatt der "Kinder- und Hausmärchen" von Ludwig Emil Grimm.

Der Beitrag von Dr. Eckhard Meise erschien in: Wirtschaftsstandort Hanau - Chancen und Perspektiven einer Stadt. Europäischer Wirtschaftsverlag / Stadt Hanau, 2002/03.